Analyse großer Datenbestände als Schlüssel zur Prognose von Kunden- und Wählerverhalten
von Martin J. Schwiezer
Der Begriff prädiktives, also vorhersagendes, Marketing, fasst Methoden zusammen, die dazu dienen, zukünftige Handlungen von Kunden oder Wählern vorauszusagen sowie alle Marketing-Aktivitäten, die aufgrund dieser Vorhersagen unternommen werden. Grundlage sind zuvor erfasste Daten über die jeweiligen Individuen und deren Verhalten.
Hört sich gar nicht so neu an? Richtig: Genau wie beim Microtargeting sind die Grundlagen des Predictive Marketing nichts, was erst mit Einzug des eCommerce erfunden wurde. So bemühen sich z.B. Versicherungen seit ewigen Zeiten darum, ihre Angebote an die jeweils individuelle Situation, bzw. den vermuteten Bedarf des umworbenen Kunden anzupassen. Händler und Versandhäuser interessieren sich für Bonität und Kaufgewohnheiten ihrer Klientel usw. Sie alle passen ihre Angebote den gewonnenen Erkenntnissen, bzw. dem jeweiligen Kunden an, in der Hoffnung, die Zahl der Geschäftsabschlüsse, bzw. den Absatz zu erhöhen. Nichts anderes ist auch das Ziel des prädiktiven Marketings. Neu ist lediglich die Art und der Umfang der Informationsgewinnung sowie die beeindruckend gestiegene Präzision und Erfolgsrate der Maßnahmen.
Bevor wir uns außergewöhnlichen Möglichkeiten und Beispielen des Predictive Marketings widmen, vergegenwärtigen wir uns zunächst die Grundlagen der Datengewinnung und -nutzung . Als Beispiel betrachten wir einen fiktiven Online-Versandhandel, den wir X-Markt taufen. X-Markt hat seinen Online-Shop so aufgesetzt, dass er die folgenden Daten über seine Kunden sammelt und auswertet:
- Personalien (Name, Adresse, Telefon, Geschlecht, Alter)
- Seit wann Kunde?
- Welche Artikel gekauft?
- Wie viele Artikel gekauft?
- Wie viel Umsatz generiert (kumuliert und durchschnittlich)?
- Wie oft retourniert (Umtausch)?
- In welcher Frequenz besucht er X-Markt?
- Nach welchen Produkten wurde gesucht?
- Welche Produkte wurden betrachtet?
- Wie oft wurden die Produkte betrachtet?
- Wie lange wurden die Produkte betrachtet?
- Gab es Probleme bei der Zustellung der Waren?
- Gab es Probleme bei der Zahlung?
- Über welchen Weg wird gezahlt (Kreditkarte, Bankeinzug etc.)?
- Hat der Kunde Produktbewertungen oder -berichte hinterlassen?
- Gab es Kontakt zum Kunden-Support?
- Wie zufrieden ist der Kunde mit X-Markt und seinen Produkten?
Die Auswertung dieser Daten ermöglicht es, die Kunden des Marktes mit einem Score zu klassifizieren: von sehr niedrig für einen unzuverlässigen Kunden, der unpünktlich zahlt, sich für Produkte mit geringer Gewinn-Marge interessiert, viele Retouren verursacht und geringe Umsätze generiert bis sehr hoch für den langjährigen Kunden, der hohe Umsätze bringt, Produkte mit hoher Marge kauft, pünktlich zahlt etc.
Wird der errechnete Kunden-Score dann in ein unternehmensweites CRM-Tool übertragen, können Richtlinien definiert werden, die es jedem Kundendienstmitarbeiter ermöglichen, über z.B. einen Kulanzantrag oder sonstige, ähnlich komplexe Vorgänge, autonom (bzw. Score-basiert) zu entscheiden. Die zeitintensive, aufwendige Eskalation von komplexen Kundenafragen zum Vorgesetzten entfällt.
Neben diversen individuellen Systemen hat sich zur Klassifizierung von Kunden vor allem das RFM-Score-System etabliert (R: Recency – Wie lang ist es her, dass der Kunde gekauft hat?, F: Frequency – Wie oft kauft der Kunde?, M – Monetary Value – Wie viel Geld gibt der Kunde aus?). Der RFM-Score wird z.B. eingesetzt, um über Kundenanfragen zu entscheiden oder um zu bestimmen, ob risikobehaftete Zahlungemethoden (Nachnahme, Ratenzahlung, Zahlung auf Rechnung etc.) einem Kunden überhaupt auf der Website angezeigt werden.
Derartige Systeme werden nicht nur in der Wirtschaft eingesetzt. Auch die Politik entdeckt sie derzeit. So plant China die landesweite Einführung eines so genannten Citizen Score Systems für das Jahr 2020. Das System vergibt Punkte für Regime-konformes Verhalten oder reduziert das Punktekonto nach Ungehorsam. Für das westliche Verständnis von Demokratie und Selbstbestimmung legt eine derartige Verwendung wohl den Vergleich zu Big Brother-Dystopien nahe.
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